BGH gewährt Ersatz für Verdienstausfall wegen verspätet zur Verfügung gestellter Kinderbetreuungsplätze

Eltern, deren Kindern entgegen der Verpflichtung des Staates aus § 24 Abs. 2 SGB VIII ab Vollendung des ersten Lebensjahres kein Betreuungsplatz zur Verfügung gestellt wird, können, wenn sie deswegen keiner Erwerbstätigkeit nachgehen können, ihren Verdienstausfallschaden im Weg der Amtshaftung nach § 839 Abs. 1 Satz 1 BGB in Verbindung mit Art. 34 Satz 1 GG ersetzt verlangen. Dies hat der Bundesgerichtshof am 20.10.2016 in drei Parallelverfahren entschieden (Az.: III ZR 278/15, III ZR 302/15 und III ZR 303/15).

Mütter machen gegenüber Stadt Verdienstausfall geltend

Die Klägerinnen der drei Verfahren beabsichtigten, jeweils nach Ablauf der einjährigen Elternzeit ihre Vollzeit-Berufstätigkeit wieder aufzunehmen. Unter Hinweis darauf meldeten sie für ihre Kinder wenige Monate nach der Geburt bei der beklagten Stadt Bedarf für einen Kinderbetreuungsplatz für die Zeit ab der Vollendung des ersten Lebensjahres an. Zum gewünschten Termin erhielten die Klägerinnen von der Beklagten keinen Betreuungsplatz nachgewiesen. Für den Zeitraum zwischen der Vollendung des ersten Lebensjahres ihrer Kinder und der späteren Beschaffung eines Betreuungsplatzes verlangen die Klägerinnen Ersatz des ihnen entstandenen Verdienstausfalls. Unter Anrechnung von Abzügen für anderweitige Zuwendungen und ersparte Kosten belaufen sich die Forderungen auf 4.463,12 Euro, 2.182,20 Euro beziehungsweise 7.332,93 Euro.

OLG: Erwerbsinteressen nicht geschützt

Das Landgericht Leipzig hatte den Klagen stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hatte das Oberlandesgericht Dresden die Klagen abgewiesen. Es hatte ausgeführt, dass die beklagte Stadt zwar ihre aus § 24 Abs. 2 SGB VIII folgende Amtspflicht verletzt habe. Die Erwerbsinteressen der Klägerinnen seien von dieser Amtspflicht aber nicht geschützt. Hiergegen richten sich die Revisionen der Klägerinnen.

Auch BGH bejaht Amtspflichtverletzung

Der BGH hat die Urteile des OLG aufgehoben und die Sachen zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Er hat im Einklang mit beiden Vorinstanzen das Vorliegen einer Amtspflichtverletzung der beklagten Stadt bejaht. Eine Amtspflichtverletzung liege bereits dann vor, wenn der zuständige Träger der öffentlichen Jugendhilfe einem gemäß § 24 Abs. 2 SGB VIII anspruchsberechtigten Kind trotz rechtzeitiger Anmeldung des Bedarfs keinen Betreuungsplatz zur Verfügung stellt. Die betreffende Amtspflicht sei nicht durch die vorhandene Kapazität begrenzt. Vielmehr sei der verantwortliche öffentliche Träger der Jugendhilfe gehalten, eine ausreichende Zahl von Betreuungsplätzen selbst zu schaffen oder durch geeignete Dritte – freie Träger der Jugendhilfe oder Tagespflegepersonen – bereitzustellen. Insoweit treffe ihn eine unbedingte Gewährleistungspflicht.

BGH: Zweck ist auch Schutz der Eltern

Entgegen der Auffassung des OLG bezwecke diese Amtspflicht auch den Schutz der Interessen der personensorgeberechtigten Eltern. In den Schutzbereich der Amtspflicht fielen dabei auch Verdienstausfallschäden, die Eltern dadurch erleiden, dass ihre Kinder entgegen § 24 Abs. 2 SGB VIII keinen Betreuungsplatz erhalten. Zwar stehe der Anspruch auf einen Betreuungsplatz allein dem Kind selbst zu und nicht auch seinen Eltern. Die Einbeziehung der Eltern und ihres Erwerbsinteresses in den Schutzbereich der Amtspflicht ergebe sich aber aus der Regelungsabsicht des Gesetzgebers sowie dem Sinn und Zweck und der systematischen Stellung von § 24 Abs. 2 SGB VIII.

Kinderförderungsgesetz sollte auch erwerbswilligen Eltern zugute kommen

Mit dem Kinderförderungsgesetz, insbesondere der Einführung des Anspruchs nach § 24 Abs. 2 SGB VIII, habe der Gesetzgeber neben der Förderung des Kindeswohls auch die Entlastung der Eltern zugunsten der Aufnahme oder Weiterführung einer Erwerbstätigkeit beabsichtigt. Es sei ihm – auch – um die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsleben gegangen und, damit verbunden, um die Schaffung von Anreizen für die Erfüllung von Kinderwünschen. Diese Regelungsabsicht habe auch im Gesetzestext ihren Niederschlag gefunden. Sie finde sich insbesondere in den Förderungsgrundsätzen des § 22 Abs. 2 SGB VIII bestätigt. Der Gesetzgeber habe hiermit zugleich der Erkenntnis Rechnung getragen, dass Kindes- und Elternwohl sich gegenseitig bedingen und ergänzen und zum gemeinsamen Wohl der Familie verbinden.

Weitere tatrichterliche Feststellungen erforderlich

Demnach komme ein Schadenersatzanspruch der Klägerinnen aus Amtshaftung in Betracht, sodass die Berufungsurteile aufzuheben seien. Wegen noch ausstehender tatrichterlicher Feststellungen zum Verschulden der Bediensteten der Beklagten und zum Umfang des erstattungsfähigen Schadens hat der BGH die drei Verfahren nicht abschließend entschieden, sondern an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Werde der Betreuungsplatz nicht zur Verfügung gestellt, bestehe hinsichtlich des erforderlichen Verschuldens des Amtsträgers zugunsten des Geschädigten der Beweis des ersten Anscheins, stellt der BGH in diesem Zusammenhang klar. Auf allgemeine finanzielle Engpässe könne die Beklagte sich zu ihrer Entlastung nicht mit Erfolg berufen. Denn sie müsse nach der gesetzgeberischen Entscheidung für eine ausreichende Anzahl an Betreuungsplätzen grundsätzlich uneingeschränkt – insbesondere: ohne „Kapazitätsvorbehalt“ – einstehen.

Quelle: beck.de

Teile diese News

weitere News: